“Wenn ihr dieses Video seht, bin ich tot.” Mit diesen Worten beginne ich ein alljährliches Ritual, das mich gleichsam erdet und den Fokus auf das lenkt, was wirklich wichtig ist. Kürzlich feierte ich mal wieder meinen Geburtstag, ein sinnvoller Tag für mich, um mal kurz inne zu halten und mich mit der eigenen Sterblichkeit auseinander zu setzen. Leben und Tod sind unwiderruflich miteinander verknüpft und wir haben keine Garantie, im hohen Alter friedlich zu entschlafen. Daher nehme ich alljährlich ein kurzes Video auf, das sich an meine Hinterbliebenen richtet, falls mir etwas Unerwartetes zustoßen und ich sterben sollte.
Seit einigen Jahren ist dies für mich ein wichtiges und wertvolles Ritual geworden und ich rege Dich hiermit ganz bewusst dazu an, das ebenfalls mal auszuprobieren und vielleicht auch für Dich als Ritual einzuführen. Zum einen setzt Du Dich so mit Deiner eigenen Sterblichkeit intensiv und bewusst auseinander und setzt nicht stillschweigend voraus, dass Du steinalt wirst. Was ich natürlich Dir ebenso wünsche, wie mir. Wünsche sind jedoch Ziele ohne Plan und ohne Einflussmöglichkeit, daher hast Du das schlicht nicht in der Hand und das sollte Dir bewusst sein. Wie Du Dir vermutlich vorstellen kannst, erdet mich dieses Vorhaben in einer gänsehauterzeugenden Art und Weise, denn es macht mir sehr intensiv bewusst, wie filigran (und auch unwesentlich) unser individueller Pfad in dieser irdischen Episode ist. Zum anderen fordert mir dieses Video die Kraft und Ehrlichkeit mir selbst gegenüber ab, mich mit meinen Zielen und Visionen auseinander zu setzen, also dem, was ich in den letzten 365 Tagen (nicht) gemacht habe. Es geht (mir) dabei auch um viel mehr, als um die Anzahl der gelesenen Bücher oder die Zahl der Nullen hinter meinem Umsatz. Es geht um Fragen wie:- Warst Du im vergangenen Jahr häufiger glücklich/ zufrieden/ gerührt, als im Jahr davor?
- Welche spannenden Menschen hast Du neu kennen gelernt?
- Bist Du Energievampire losgeworden, hast Du neue Freunde gewonnen?
- Bei wem würdest Du Dich vor Deinem Tod (oder dem Tod dieser Person) gerne nochmals gemeldet haben?
- Was möchtest Du gerne mit wem klären, bevor Du, bzw. er/ sie aus dieser Welt tritt?
- Warum machst Du das nicht gleich jetzt? Zumindest zeitnah?
- Was kannst Du noch tun, um Dein Leben erfüllter zu gestalten und liebevoller und liebenswerter zu werden?
- Und noch vieles mehr.
Schreib Dir dazu gerne ein paar Fragen auf, die Dich speziell bewegen, denn alleine dieser Prozess wird Dich vermutlich zum Grübeln bringen und Mut machen, im nächsten Lebensjahr (oder auch sofort) mal wieder was Neues auszuprobieren und wichtige Belange nicht aufzuschieben, bis es vielleicht zu spät dafür ist. Dieses Jahr wurde mir das besonders bewusst gemacht, als am Tag, nachdem ich mein diesjähriges Jahresvideo gedreht hatte, ein mutmaßlich depressiver Pilot eine Germanwings-Maschine über Frankreich zum Absturz brachte. In wenigen Wochen fliege ich mit einer lieben Freundin nach Indien und ich habe in meinem Video auch in Betracht gezogen, dass mir auf dieser Reise etwas zustoßen könnte, weil es das jederzeit und überall kann. Wie auch täglich auf dem Weg zum Kunden oder überall anderswo. Durch einen Störfall im AKW, Schläger in der Bahn, im Verkehr, durch Krankheit oder eben aus siebenhundertneunundvierzigmillionenundeinem anderen denkbaren Gründen. Gleichwohl empfinde ich selbstverständlich Mitgefühl mit den Hinterbliebenen (jedes Todesfalls) und wünsche Ihnen die Kraft, um das gut und abschließend verarbeiten zu können.
Bevor ich diesen Montag das neue “Todes-Video” aufnahm, schaute ich mir, wie jedes Jahr, das letztjährige Video an und löschte es dann. In diesem Moment bin ich ganz bei mir und meinem Leben, ehrlich, schonungslos, unbequem und zugleich wertschätzend. Auch dieses Jahr begann ich dieses Video mit den Worten: „Liebe Familienangehörige, liebe Freunde, wenn ihr dieses Video seht, bin ich tot.“ Diese Worte alleine erfordern jedes Mal Überwindung. Bei den ersten Videos kamen mir dabei die Tränen, klassisches Selbstmitleid eben. Das machte mir bewusst, wie arrogant meine Einstellung zum Leben war und für wie selbstverständlich ich es hinnahm. Heute ist der Tod für mich etwas normaler geworden, ja er ist sogar die einzige Konstante in unser aller Leben. Dadurch hat er seine Mächtigkeit zwar nicht verloren (ich habe sehr viel Respekt vor dem Leben), führt bei mir jedoch auch nicht zu Ohnmacht, wie man sie dieser Tage, inmitten sehr viel Heuchelei und noch mehr Selbstdarstellung, immer wieder finden kann. Egal wie tragisch die Umstände erscheinen, jedes Leben ist endlich und auch bedeutungslos, wenn wir ihm im Leben keine Bedeutung gegeben haben (dieser Satz klingt vermutlich trivialer, als er gemeint ist). Du hinterlässt Deiner Nachwelt die Summe Deiner Entscheidungen, die Auswirkungen Deiner Taten und Menschen, in denen Deine Worte, Gedanken und Handlungen weiterleben könn(t)en. Oder auch nicht. Warum also um den heißen Brei herumreden, wozu das (dann) Unvermeidliche nicht beim Namen nennen? Es geht in diesem Moment gerade nicht um Relativierung und Beschönigen, sondern darum, dass ich mich frage, was ich hinterlassen haben würde, wenn der Tag X zufällig auf einen der nächsten 365 fallen würde. Habe ich Gutes getan und/ oder Böses verhindert? Habe ich anderen Menschen Impulse gegeben, gute Gefühle beschert? Wie sinnvoll und wertschätzend habe ich meine Lebenszeit genutzt? Für was? Und so weiter. Danach lasse ich auf dem Video das vergangene Jahr Revue passieren und kommentiere kurz mein aktuelles Lebensfazit in diesem Moment und gebe einen Ausblick auf meine Pläne. Zwangsläufig stellt sich mir dadurch die Frage nach dem Sinn, den ich meinem Leben geben will.
Jammer nicht über das, was dir fehlt, sondern sei dankbar für das, was du hast
Bei der Recherche zu diesem Artikel habe ich ein schönes Zitat von der Autorin Esther Klepgen gefunden: „Jammern – klägliches Anfordern von Huldigung.“ Wer Huldigung sucht, der fokussiert sich zuerst auf sein Umfeld und leitet daraus den Selbstwert ab. Wer hingegen dankbar ist, der fokussiert sich zuerst auf sich selbst. Wer stets bevorzugt auf Vergangenes schaut und unabänderliche Begebenheiten kritisiert (was Jammern impliziert), der wird logischerweise weniger gut vorankommen (wenn überhaupt), als jemand, der stattdessen lernt und für alle Erfahrungen dankbar ist. Diese innere Einstellung ist meines Wissens nach auch nichts Angeborenes, sondern eine Art der erlernten Hilflosigkeit, die sich jederzeit – einen klaren Verstand vorausgesetzt – ändern lässt. Mach Dir mal bewusst, worauf es Dir im Leben wirklich ankommt. Für mich sind das beispielsweise und keineswegs abschließend: Gesundheit, familiärer Zusammenhalt, wahre und langjährige Freundschaften, Offenheit für den Moment (in der Natur, beim Lesen, in geselligen Runden….) und vor allem die Fähigkeit sich selbst zu mögen, auch wenn niemand anderes dabei ist, Abwechslung, Veränderung, Neues erleben, Emotionen ausleben (können), Lernen und Schwärmen. Das Schöne ist, wir brauchen uns dafür gar nicht in die Einöde verziehen und unsere Besitztümer aufzugeben, es reicht bereits, diese im jeweiligen Moment loslassen zu können. Es geht beim Training der achtsamen Dankbarkeit also darum, die eigene Blickrichtung zu ändern. Nicht zurück zu schauen und zu bewerten, sondern nach vorne zu schauen und dankbar für jede Erfahrung zu sein, die Dein Leben mitprägt. Du weißt ja jetzt noch nicht, was Du alles daraus (schon) lernen konntest. Ich gehe mittlerweile davon aus, dass alles für etwas gut ist. Bewahrt mich das vor Melancholie und Depression? Keineswegs. Können mich andere Menschen verletzen? Selbstverständlich. Ich bin sehr emotional und somit geht es auch bei mir entsprechend stark rauf und runter. Perspektivisch geht es allerdings seit Jahren bergauf und das ist kein Zufall, auch kein Schicksal, sondern ein Arbeitsprozess. Gerade wenn es darum geht Status, Jobs oder sogar Menschen (manchmal für eine bestimmte Zeit, manchmal für immer) loszulassen, erfordert das Kraft. Es nicht zu tun erfordert jedoch ganz oft noch viel mehr Kraft, vor allem auf längere Zeit betrachtet. Je mehr Du in Deinem Leben auf später verschiebst, desto größer wird die Furcht vor einer nötigen Entscheidung. Mein liebstes Zitat zu diesem Thema wird oft, irrtümlicherweise, Mahatma Gandhi zugeschrieben, den ich nicht nur wegen seiner Gewaltlosigkeit und Beharrlichkeit zum Vorbild habe. Tatsächlich datiert es im Original bereits um einiges früher und stammt (im lateinischen Original) von einem anderen, sehr beeindruckenden Gelehrten, nämlich Isidor von Sevilla, einem Schriftsteller und Bischof aus dem Frühmittelalter: „Lerne, als würdest Du ewig leben, lebe, als würdest Du morgen sterben.“
Ich wünsche Dir ein zauberhaftes Wochenende.
Bis bald
Dein Markus Orschler
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